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Beyond Management: Führung in einer VUCA-Welt

Weiße Kassette auf kräftigem orangefarbenem Hintergrund mit ausgerolltem Band – symbolisiert den Wunsch nach Orientierung in einer chaotischen, unübersichtlichen Welt.

VUCA-Welt: Führung in unübersichtlichen Zeiten – Symbolbild mit Kassette

In einer Zeit permanenten Wandels reicht klassisches Management längst nicht mehr aus. Warum traditionelle Führungsansätze an ihre Grenzen stoßen und welche Kompetenzen heute wirklich zählen.

Die neue Realität: Willkommen in der VUCA-Welt

Im Gespräch mit einem befreundeten Geschäftsführer beschrieb dieser seine aktuelle Situation folgendermaßen: „Vor fünf Jahren konnte ich noch verlässliche Drei-Jahres-Pläne erstellen. Heute bin ich froh, wenn unsere Quartalsplanung halbwegs Bestand hat.“ Diese Erfahrung ist symptomatisch für die Realität, in der wir Führungskräfte uns heute bewegen: einer VUCA-Welt.

VUCA – ein Akronym für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit, Unklarheit) – beschreibt präzise die Herausforderungen moderner Führung. Ursprünglich vom US-Militär geprägt, hat dieser Begriff längst Einzug in die Unternehmensführung gehalten.

Was bedeuten diese vier Dimensionen konkret?

Diese Realität fordert von Führungskräften ein fundamentales Umdenken – weg vom Kontrollparadigma, hin zu einer Führung, die Anpassungsfähigkeit und kreative Problemlösung fördert.

Traditionelle vs. moderne Führungsansätze

Traditionelle FührungFührung in der VUCA-Welt
Hierarchische KontrollsystemeNetzwerkorientierte Zusammenarbeit
Langfristige Planung und BudgetierungAdaptive Planung und schnelle Iterationen
FehlerminimierungExperimentierfreudigkeit und Lernorientierung
Funktionale SilosCross-funktionale Teams
Wissen als MachtWissensaustausch als Stärke
Entscheidungsfindung durch FührungsebeneEntscheidungskompetenz auf allen Ebenen

Die Gegenüberstellung macht deutlich: In einer VUCA-Welt sind Kontrolle und starre Prozesse kontraproduktiv. Stattdessen braucht es Strukturen und Verhaltensweisen, die Agilität und Anpassungsfähigkeit fördern.

Ein Beispiel: Das von Stefan Thomke in seinem Buch „Experimentation Works“ (2020) beschriebene Fallbeispiel von Bosch zeigt den gelungenen Transformationsprozess. Der Technologiekonzern führte in seiner Entwicklungsabteilung für Automobilsteuergeräte agile Methoden ein und ersetzte den klassischen Stage-Gate-Prozess durch iterative Entwicklungszyklen. Die Ergebnisse waren beeindruckend: 25% kürzere Markteinführungszeiten und eine signifikant höhere Zufriedenheit der Automobilhersteller, da deren Feedback bereits in frühen Entwicklungsphasen einbezogen wurde. Besonders wertvoll war laut Thomke die „kontinuierliche Validierung von Annahmen“, die teure Fehlentwicklungen verhinderte.

Die vier Kernkompetenzen für Führung in der VUCA-Welt

Um in diesem hochdynamischen Umfeld erfolgreich zu führen, braucht es spezifische Kompetenzen, die ich als die „Vier R der VUCA-Führung“ bezeichne:

1. Resilient bleiben

Resiliente Führungskräfte zeichnen sich durch persönliche Stabilität aus – auch wenn um sie herum Chaos herrscht. In einer VUCA-Welt ist die eigene Widerstandskraft nicht optional, sondern existenziell. Resiliente Führungskräfte verstehen, dass ihre mentale und körperliche Verfassung direkt die Leistungsfähigkeit des gesamten Teams beeinflusst. Sie entwickeln daher bewusste Strategien, um auch unter Druck handlungsfähig zu bleiben.

Dies bedeutet nicht, unverwundbar zu sein – im Gegenteil. Echte Resilienz zeigt sich in der Fähigkeit, auch Verwundbarkeit zuzulassen und nach Rückschlägen wieder aufzustehen. In Gesprächen mit dutzenden Führungskräften hat sich gezeigt: Die Resilienten sind nicht diejenigen ohne Krisen, sondern jene, die aus jeder Krise gestärkt hervorgehen.

Resiliente Führungskräfte zeichnen sich aus durch

Man kann z.B. ein „Resilienz-Tagebuch“ führen, in dem man täglich reflektieret: Was hat mich heute herausgefordert? Wie bin ich damit umgegangen? Was nehme ich daraus mit? Besonders wirksam wird diese Übung, wenn man monatlich Einträge analysieret und Muster identifizieret: Welche Situationen kosten mich besonders viel Energie? Welche Bewältigungsstrategien haben sich als hilfreich erwiesen? Diese Metareflexion ermöglicht gezieltes Resilienztraining.

2. Richtung geben

In unsicheren Zeiten sehnen sich Menschen nach Orientierung. Die Fähigkeit, auch im Nebel einen klaren Kurs zu halten, ist vielleicht die wichtigste Führungsqualität in der VUCA-Welt. Dies bedeutet nicht, einen detaillierten Plan für die nächsten fünf Jahre zu haben – das wäre illusorisch. Vielmehr geht es darum, einen übergeordneten Sinn und Zweck zu vermitteln, der auch dann Bestand hat, wenn sich die Umstände ändern.

Eine Vision, die nicht von spezifischen Technologien oder Geschäftsmodellen abhängt, sondern von fundamentalen Werten und Bedürfnissen. Richtunggebende Führungskräfte schaffen es, diese übergeordnete Orientierung mit konkreten, erreichbaren Etappenzielen zu verbinden. Sie definieren klare Leitplanken, innerhalb derer Teams autonom agieren können.

Moderne Führungskräfte zeichnen sich aus durch:

Führt mit euren Teams eine „Kompass-Session“ durch. Bittet jedes Teammitglied, die folgenden drei Fragen schriftlich zu beantworten:

1) Was verstehst du als unseren übergeordneten Zweck?
2) Welche drei Werte sind für unsere Arbeit am wichtigsten?
3) Woran merkst du im Alltag, ob eine Entscheidung im Sinne unserer Vision ist?

Die anschließende Diskussion der Antworten offenbart nicht nur unterschiedliche Interpretationen, sondern schärft auch das gemeinsame Verständnis der Richtung und macht abstrakte Konzepte alltagstauglich.

3. Reflexion fördern

Führungskräfte in der VUCA-Welt wissen, dass kontinuierliches Lernen überlebenswichtig ist. In einer Umgebung, die sich ständig verändert, ist die Halbwertszeit von Wissen dramatisch gesunken. Was gestern noch als bewährte Praxis galt, kann heute schon überholt sein. Die Fähigkeit, kontinuierlich zu reflektieren – sowohl individuell als auch kollektiv – wird damit zur Kernkompetenz.

Reflexive Führungskräfte etablieren eine Lernkultur, in der das Hinterfragen von Annahmen nicht als Störfaktor, sondern als wertvoller Beitrag gilt. Sie verstehen, dass echtes Lernen Zeit braucht und schaffen bewusst Räume dafür, auch wenn der operative Druck hoch ist. In meinen Beratungsprojekten habe ich immer wieder beobachtet, dass gerade die erfolgreichsten Teams sich diese Reflexionszeit nehmen – nicht trotz, sondern wegen ihres Erfolgsdrucks.

Eine reflektierte Führungskraft zeichnet sich aus durch:

Implementiert zum Beispiel „After Action Reviews“ nach wichtigen Projekten oder Meilensteinen. Reserviert 60-90 Minuten mit allen Beteiligten und strukturiert das Gespräch anhand dieser vier Fragen:

1) Was war unser Ziel?
2) Was ist tatsächlich passiert?
3) Warum gab es Abweichungen zwischen Plan und Realität?
4) Was lernen wir daraus für zukünftige Projekte?

Entscheidend für den Erfolg ist eine psychologisch sichere Atmosphäre, in der ehrliche Reflexion ohne Schuldzuweisungen möglich ist. Dokumentiert die Erkenntnisse und überprüft vor dem nächsten Projekt, ob die Learnings berücksichtigt wurden.

4. Resonanz schaffen

In einer komplexen Welt ist niemand allwissend. Die Zeiten des heroischen Einzelkämpfers an der Spitze sind vorbei – wenn sie überhaupt je existierten. Erfolgreiche Führung in der VUCA-Welt basiert auf der Fähigkeit, mit anderen in Resonanz zu treten – ein Begriff, den der Soziologe Hartmut Rosa geprägt hat.

Resonanz bedeutet mehr als nur Networking oder Teambuilding. Es geht um die Fähigkeit, echte Verbindungen herzustellen, in denen Menschen sich gesehen und gehört fühlen. Aus dieser Verbindung entsteht kollektive Intelligenz, die komplexe Probleme besser lösen kann als jeder Einzelne. Resonanzfähige Führungskräfte schaffen Umgebungen, in denen Menschen ihr volles Potenzial entfalten können, weil sie sich sicher genug fühlen, auch unkonventionelle Ideen zu äußern oder Fehler einzugestehen.

Erfolgreiche Führungskräfte:

Man kann beispielsweise „Zuhör-Sessions“ einführen, in denen man als Führungskraft ausschließlich Fragen stellt und zuhört – ohne sofort Lösungen anzubieten oder zu bewerten. Man wählt ein aktuelles Thema und lädt 3-5 Teammitglieder zu einem 60-minütigen Gespräch ein.

Erklärt zu Beginn den Zweck: „Ich möchte eure Perspektiven besser verstehen, ohne direkt Lösungen zu diskutieren.“ Bereitet offene Fragen vor und praktiziert aktives Zuhören: Blickkontakt halten, nicken, das Gehörte zusammenfassen. Notiert nicht nur Fakten, sondern auch Emotionen und Körpersprache. Reflektiert anschließend: Was hat mich überrascht? Welche neuen Einsichten habe ich gewonnen?

Entscheidungsfindung bei Unsicherheit

Eine besondere Herausforderung in der VUCA-Welt ist die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit. Drei praxiserprobte Ansätze:

Die 70%-Regel

Wartet nicht auf 100% Sicherheit – das wird es selten geben. Treffet Entscheidungen, wenn ihr zu 70% sicher seid, und korrigiert bei Bedarf. Der US-General Colin Powell prägte diesen Ansatz: „Mit weniger als 40% Information ist es zu riskant zu entscheiden. Mit mehr als 70% kommt die Entscheidung meist zu spät.“

Minimum Viable Decisions

Inspiriert vom Konzept des „Minimum Viable Product“: Trefft die kleinstmögliche Entscheidung, die Fortschritt ermöglicht, und sammelt schnell Feedback. Dies reduziert das Risiko großer Fehlentscheidungen und erhöht die Lerngeschwindigkeit.

Entscheidungsmatrizen

Bei komplexen Entscheidungen mit vielen Variablen helfen strukturierte Matrizen, die Kriterien gewichten und Optionen systematisch bewerten. Dies reduziert kognitive Verzerrungen und macht den Entscheidungsprozess transparenter.

VUCA-Führung in der Praxis

Wir standen – wie viele andere auch – bei den RegioHelden vor der Herausforderung massiver Probleme während der Pandemie. Statt mit einem detaillierten Krisenplan reagierten wir als Geschäftsleitung mit einem agilen Ansatz:

  1. Resilienz: Etablierung eines Cross-funktionalen Krisenteams mit klaren Rollen aber maximaler Entscheidungsfreiheit
  2. Richtung: Definition von drei nicht-verhandelbaren Prioritäten: Mitarbeitergesundheit und Kundenbindung
  3. Reflexion: Tägliche 15-minütige Standups zur Lagebeurteilung und Anpassung innerhalb des Bereichs
  4. Resonanz: Wöchentliche Townhalls mit allen Mitarbeitern für transparente Kommunikation und Feedback

Das Resultat: Während Wettbewerber mit starren Notfallplänen kämpften, konnten wir flexibel reagieren, Alternativen erschließen und sogar Marktanteile gewinnen.

Reflexionsfragen für die Führungspraxis

Von der Vorhersage zur Vorbereitung

Führung in der VUCA-Welt bedeutet einen fundamentalen Paradigmenwechsel: weg vom Versuch, die Zukunft vorherzusagen und zu kontrollieren, hin zur Vorbereitung auf unterschiedliche Szenarien und der Entwicklung von Anpassungsfähigkeit.

Der Schlüssel liegt nicht mehr darin, alle Antworten zu kennen, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Nicht mehr in der Perfektion, sondern in der Geschwindigkeit des Lernens. Nicht mehr in der Kontrolle, sondern in der Befähigung.

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