Veränderung passiert nicht einfach. Sie wird nur gemacht, wenn sie zuvor verstanden wird. Karl Weick, Organisationspsychologe an der University of Michigan, prägte dafür den Begriff Sensemaking: das „Sinn-Machen“ in Organisationen.
Er beschreibt damit den Prozess, in dem Menschen rückblickend Bedeutung schaffen: Sie ordnen Ereignisse, erzählen Geschichten, suchen nach Mustern. Erst dadurch entsteht ein gemeinsames Verständnis davon, was überhaupt geschieht und was es bedeutet.
Veränderung ist Wahrnehmung
In Organisationen scheitert Wandel selten an fehlenden Strategien, sondern an unterschiedlichen Deutungen derselben Realität. Für die einen ist eine Reorganisation eine Chance, für andere eine Bedrohung. Weick schreibt: Menschen handeln nicht aufgrund dessen, was „objektiv“ passiert, sondern aufgrund dessen, was sie für wahr halten. Veränderung beginnt also nicht mit neuen Strukturen, sondern mit gemeinsamem Sinn.
Edgar Schein nennt diese Ebene „kulturelle Deutungsmuster“. Kultur ist für ihn kein Artefakt, sondern das unsichtbare Bedeutungsnetz, das Verhalten leitet. Führung, so Schein, ist deshalb immer auch „Kulturarbeit“. Wer führt, gestaltet somit die gemeinsamen Annahmen, nach denen andere handeln.
Sprache als Schlüssel zur Veränderung
Weick betont, dass Sensemaking immer sozial ist. Bedeutung entsteht nicht im Kopf Einzelner, sondern im Gespräch. In Meetings, auf Fluren, in Chats. Eben überall dort, wo Menschen versuchen, sich ein Bild zu machen. Sprache wird dabei zum Werkzeug des Wandels. Worte wie „Transformation“, „Neuausrichtung“ oder „Effizienz“ sind nicht neutral, sondern sind mit einem individuellen Verständnis verbunden.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat das in seiner Systemtheorie prägnant formuliert: Organisationen existieren nicht durch Menschen, sondern durch Kommunikation. Wer Kommunikation gestaltet, gestaltet die Organisation. Deshalb ist Change-Kommunikation kein Nebenprodukt des Wandels. Sie ist der Wandel.
Das Gehirn sucht nach Sinn
Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Gehirn ständig versucht, Unsicherheiten zu reduzieren. Fehlt eine sinnvolle Einordnung, reagiert das Nervensystem mit Stress.
David Rock beschreibt diesen Mechanismus im sogenannten SCARF-Modell: Wenn Status, Sicherheit, Autonomie, Zugehörigkeit oder Fairness bedroht sind, schaltet das Gehirn auf Verteidigung. Erst wenn Sinn und Zusammenhang wiederhergestellt sind, öffnet es sich für Neues.
Das erklärt, warum viele Veränderungsprojekte auf der rationalen Ebene logisch klingen, aber emotional scheitern. Menschen brauchen ein kohärentes Bild. Sensemaking schafft genau das: die Brücke zwischen Ungewissheit und Bedeutung.
Äußere Veränderung und innere Übergänge
William Bridges unterscheidet zwischen Change und Transition. Change ist das, was äußerlich passiert: neue Strukturen, Prozesse, Strategien. Transition beschreibt den inneren Prozess, mit dem Menschen sich darauf einstellen. Sensemaking verbindet beides. Es übersetzt äußere Veränderungen in eine innere Erzählung, die Sinn ergibt.
Führung heißt in diesem Zusammenhang, Raum für diesen Übergang zu schaffen. Nicht, um Kontrolle zu behalten, sondern um Orientierung zu ermöglichen. Wer Wandel nur managt, übersieht, dass Menschen sich nicht verändern, weil man es anordnet – sondern weil sie verstehen, warum es sinnvoll ist.
Führung als Sinnstifter
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe von Führung im Wandel: nicht Antworten zu geben, sondern das gemeinsame Fragen zu ermöglichen. Sensemaking ist kein Instrument, sondern eine Haltung. Sie geht davon aus, dass Sinn nicht vor dem Handeln entsteht, sondern währenddessen. Veränderung ist kein linearer Prozess, sondern ein gemeinsames Aushandeln von Bedeutung.
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