Simon Sinek, bekannt für Konzepte und Bücher wie Start with Why oder Leaders Eat Last, hat in einem Interview eine Sichtweise formuliert, die sich so in keinem seiner Bücher findet, aber vielleicht zu den befreiendsten gehört, die man im Kontext von Selbstverständnis und Führung hören kann:
„Ich glaube nicht an Stärken und Schwächen. Ich glaube an Eigenschaften – und deren Wirkung ist kontextabhängig.“
Diese Perspektive hat er unter anderem in einem Podcast näher ausgeführt, in dem er seine eigene Erfahrung mit ADHS beschreibt – und wie daraus je nach Umgebung entweder eine Herausforderung oder ein Vorteil entsteht. Ergänzend schreibt er in einem Blogbeitrag auf seiner Website:
„Every strength has a weakness. Every weakness has a strength. If you know how to talk about both sides, you come across as self-aware and honest.“
Entscheidend dabei ist, dass es nicht um Schönreden geht. Sondern um ein tieferes Verständnis: Eigenschaften sind neutral – ihre Bewertung entsteht im Kontext.
Wenn Wirkung wichtiger ist als Wahrheit
Stellen wir uns zwei Menschen vor, die sehr genau arbeiten. Beide überprüfen ihre Unterlagen mehrfach, denken in Schleifen, hadern mit Abkürzungen. In einem Umfeld, das Sicherheit und Gründlichkeit schätzt – z. B. in der Qualitätssicherung oder bei der Vertragsprüfung – ist diese Art zu arbeiten Gold wert. In einem agilen Projekt mit engem Zeitrahmen wird dieselbe Arbeitsweise als „blockierend“ oder „zu langsam“ empfunden. Was hat sich verändert? Nicht die Person. Sondern die Geschichte, in die sie gesetzt wurde.
Simon Sinek beschreibt genau das, wenn er über den Begriff „weakness“ spricht. Es gehe nicht darum, Schwächen zu verstecken oder sich dafür zu entschuldigen – sondern sie im Kontext zu verstehen. Nur dann können wir auch das passende Gegengewicht erkennen:
„I have ADHD. Okay. What’s the counterbalance? Hyperfocus. When I’m focused, I can get more done in a day than most people in a week.“
Es geht nicht darum, uns zu „optimieren“, sondern darum, unsere Eigenschaften im richtigen Verhältnis zur Welt zu bringen. Sinek spricht davon, dass wir in möglichst vielen Kontexten leben und arbeiten sollten, in denen unsere natürlichen Anlagen zur Geltung kommen können. Alles andere erzeugt Reibung – nicht, weil wir falsch sind, sondern weil wir falsch eingesetzt sind.
Diese Denkweise ist unbequem für Systeme, die nach Standardisierung streben. Aber sie ist enorm wertvoll für Menschen, die danach suchen, mit sich selbst in Einklang zu kommen – und für Führungskräfte, die verstanden haben, dass Potenzial nicht auf dem Papier entsteht, sondern in Beziehung.
Drei wissenschaftliche Perspektiven auf das Thema
Walter Mischel: Selbstkontrolle als situative Leistung
In seinem berühmten Experiment mit Kindern, denen ein Marshmallow versprochen wurde, wenn sie es schaffen, das vor ihnen liegende nicht sofort zu essen, zeigt Walter Mischel in den 1970er Jahren, dass Selbstkontrolle kein fixer Charakterzug ist.
Was viele übersehen: Nicht alle Kinder, die dem Reiz widerstanden, taten dies „aus Willenskraft“. Manche lenkten sich ab. Manche drehten sich weg. Manche sangen Lieder. Die Fähigkeit zur Selbstregulation war weniger eine Stärke „in“ der Person – sondern eine Stärke im Zusammenspiel von Strategie, Vertrauen und Kontext. Wer glaubte, dass die Versuchsperson wirklich zurückkommt, wartete länger.
Fazit: Was wie eine persönliche Stärke erscheint, ist oft das Resultat der Umstände – und unserer Fähigkeit, auf sie zu reagieren.
Barry Schwartz: Too much of a good thing
Barry Schwartz, Psychologe und Autor von The Paradox of Choice, beschäftigt sich mit Entscheidungsverhalten. In einer seiner Studien zeigte er, dass Menschen mit hoher Entscheidungsfreude – sogenannte „Maximizer“ – besonders analytisch und ambitioniert sind. Klingt nach einer Stärke. Tatsächlich aber berichten genau diese Menschen von mehr Stress, weniger Zufriedenheit und höherer Unsicherheit nach Entscheidungen.
Ihr analytischer Stil hilft ihnen in komplexen Märkten, aber bremst sie im Alltag aus. Im Supermarkt vor 25 Sorten Tomatensauce wirkt dieselbe Eigenschaft wie ein Klotz am Bein.
Fazit: Eigenschaften entfalten ihren Wert nicht im luftleeren Raum. Eine „Stärke“ wird zur Belastung, wenn der Kontext ihre Wirkung überdreht.
Adam Grant: Introversion als strategischer Vorteil
Organisationspsychologe Adam Grant zeigte in einer Feldstudie mit Vertriebsteams, dass introvertierte Führungskräfte besonders dann erfolgreich waren, wenn ihre Teams proaktiv und selbstinitiativ arbeiteten. Denn sie hörten mehr zu, gaben mehr Raum, griffen weniger ein. Extravertierte Führungskräfte hingegen performten besser in passiveren Teams, die auf Impulse warteten.
Ein und dieselbe Eigenschaft – etwa zurückhaltendes Verhalten – führte je nach Teamkonstellation zu exzellenten oder schlechten Ergebnissen.
Fazit: Die Wirkung einer Eigenschaft entsteht in der Beziehung zwischen Person und Umgebung – nicht in der Eigenschaft selbst.
Führung: Räume statt Rollen gestalten
Was folgt daraus? In erster Linie ein Perspektivwechsel: Weg vom Denken in „richtigen“ oder „falschen“ Persönlichkeiten – hin zu einem Verständnis von Wirkung, Resonanz und situativer Passung. Statt Menschen an Aufgaben anzupassen, wäre es sinnvoller, Aufgaben an Menschen auszurichten. Und noch besser: Umgebungen zu schaffen, in denen sich Eigenschaften entfalten dürfen.
Wer führt, übernimmt Verantwortung für diese Räume. Und wer sich selbst führen will, stellt nicht die Frage „Was kann ich (nicht)?“ – sondern „Wo kann ich so wirken, wie ich bin?“
Nicht besser werden. Passender werden.
Vielleicht sind wir gar nicht zu langsam, zu laut, zu fordernd oder zu still. Vielleicht sind wir einfach gerade im falschen Raum. Und vielleicht ist der nächste Raum schon der, in dem genau das gebraucht wird, was wir mitbringen.